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Gerd Lüpke

Wo de Ostseewellen...

Die erstaunliche Odyssee eines vorpommerschen Heimatliedes! Zum 100. Geburtstag von Martha Müller- Grählert

Im Jahr 1907 stand in den „Meggendorfer Blättern" ein Gedicht, das vor allem die norddeutschen Leser rührte, denn es war in plattdeutscher Sprache, genauer: in vorpommerschem Platt verfasst. Unter dem Autorennamen Martha-Müller Grählert, Zingst, war da folgendes zu lesen:


Das Ostseelied

Wo de Ostseewellen trecken an den Strand,                                                                                                                                                                                  

wo de geele Ginster bläuht in'n Dünensand, :,:                                                                                                     

wo de Möwen schriegen grell int Sturmgebrus,                                                                                                        

dor is miene Heimat, dor bün ik to Huus. :,:


Well' un Wogenruuschen weer mien Weigenlied,                                                                                            

un de hogen Dünen seg'n mien Kinnertiet, :,:                                                                                                                        

segen ok mien Sehnsucht un mien hell Begehr,                                                                                                              

in de Welt tau fleigen äwer Land un Meer. :,:


Woll hett mi dat Lewen dit Verlangen stillt,                                                                                                       

hett mi allens gewen, wat mien Hart erfüllt;                                                                                                 

allens is verswunnen, wat mi quält un dreew,                                                                                                   

hew nu Freden funnen, doch de Sehnsucht bleew. :,:


Sehnsucht na dat lütte, stille Heimatland,                                                                                                       

wo de Wellen trecken an den witten Strand,:,:                                                                                                                     

wo die Möwen schriegen grell int Sturmgebruus,                                                                                           

dor is miene Heimat, dor bün ick to Huus! :,:


Dieser Text kommt vor allem dem norddeutschen Leser ganz gewiss bekannt vor — nur wird er bei der Lektüre dieses Gedichtes den Kopf schütteln: waren es nicht Nordseewellen? Und da muß sofort und eindringlich festgestellt werden: Nein, es waren von Anfang an Ostseewellen! Vorpommersche Ostseewellen, um prä­zise zu sein: die Wellen, die auf den Strand der Halbinsel Darss im äussersten Westen Pommerns spülen.

Die vorpommersche Schriftstellerin Martha  Müller-Grählert schrieb vor gut sechzig Jahren dieses Heimwehgedicht an ihre geliebte Ostsee, denn an deren Küste, in Zingst, war sie am 20. Dezember 1876 als Martha Grählert geboren. Ihr Vaterhaus war eine Mühle, die nach dem Ersten Weltkrieg abgebrochen und im Hof des Deutschen Museums zu München wiederaufgebaut wurde.

Martha Grählert schrieb schon früh ernste und heitere Verse und sogar Schelmenstücke ,— und in einem kleinen Barther Heimatverlag erschien ihr Gedichtbändchen „Sünnenkringel". Die Autorin wußte selbst, daß sie nicht in die allererste Reihe der deut­schen Dichter gehörte. So schrieb sie einem Freund als Widmung in ein Exemplar ihres Büchleins:

Lütten Sparling bün ick man, min Kunst is eng ümschräben — doch möt't uck Sparlings gäben!

Martha Grählert heiratete den Chemie-Professor Müller und nannte sich daraufhin Martha Müller-Grählert. Mit ihrem Mann ging sie nach Tohoku-Sapparo in Japan, wo Professor Müller an einer Landwirtschaftsschule unterrichtete — und dort packte sie das Heimweh! Im Lande der Samurais und Kirschblüten schrieb sie das Gedicht „Mine Heimat", das im Mittelpunkt dieser Be­trachtung steht — und das somit aus Japan zu uns kam, um dann allmählich zu einer Art Nationalhymne deutscher Küstenbewohner zu werden.


Die Verfasserin schickte das Gedicht an die damals sehr be­deutenden „Meggendorfer Blätter", in denen es, wie gesagt, im Jahre 1907 zum erstenmal veröffentlicht wurde. Zwei oder drei Jahre später brachte ein Flensburger Glaser, über den noch zu sprechen sein wird, dieses Gedicht nach Zürich, wo es von Simon Krannig vertont wurde -- und schon 1910 erschien das neue Lied als zweistimmiges Kunstlied und noch nicht im Walzertakt in Schondorfs Verlag zu Braunschweig. Ein Jahr später finden wir das Gedicht der Martha Müller-Grählert im „Plattdütschen Leederbook" des „Allgemeinen Plattdeutschen Verbandes" — nach der Melodie „Freiheit, die ich meine". Und seit dieser Zeit fehlt es in keinem Liederbuch mehr, auf dessen Umschlag ein Schiff durch die Wogen zieht oder ein Eichbaum sich in den niederdeutschen Himmel reckt — allerdings seit den dreißiger Jahren in dem neueren, sentimentalen Walzer-Rhythmus.

Bleiben wir aber noch ein wenig bei der Autorin unseres Heimatliedes. Sie ging 1914 mit ihrem Mann nach Deutschland zurück. Während der Professor in Berlin Vorträge über seine Erlebnisse in Japan hielt, reiste Martha Müller- Grählert durch ihre vorpommersche Heimat und las als „Mudder Möllersch" aus ihren Arbeiten. Nicht zuletzt trug sie dabei vor aus ihrem Buch „Mudder Möllersch ehr Reis na Berlin". Diese Tätigkeit seiner Frau war jedoch ein Dorn im Auge des Chemie-Professors Müller — und schließlich ließ er sich von seiner Frau scheiden. So geriet Martha Müller-Grählert in wirtschaftliche Bedrängnis. Sie war jedoch zu­frieden mit dem wenigen, was sie hatte, und lebte noch viele Jahre in ihrem kleinen „Sünnenkringel"- Haus in Zingst, bis sie in das Kreisaltersheim Franzburg bei Stralsund übersiedelte. Hier starb sie am 19. November 1939. Sie liegt auf dem Kirchhof Zingst begraben, und auf ihrem Grabkreuz stehen die Worte:

„Hier is mine Heimat — hier bün ick tau Hus." Noch heute wird ihr Grab von dankbaren Zingstern gepflegt und mit den Blumen ihrer pommerschen Ostseeküste geschmückt.

Das einzige Gedicht der Martha Müller-Grählert, das sich durch­setzte, ist ihr Heimwehgedicht an die Ostsee, an die „Ostsee­wellen". Und wie es dazu kam, daß dies sehnsüchtige Gedicht aus dem Fernen Osten überhaupt vertont wurde, das ist eine romantische Geschichte. Da war der schon weiter oben erwähnte Flensburger Glaser auf seiner Wanderschaft nach Zürich ge­kommen und hatte sich in der schönen Stadt an der Limmat niedergelassen. Er trat dem Züricher „Arbeiter-Männergesang­verein" bei, der seinerzeit von einem Thüringer Dirigenten mit Namen Simon Krannig geleitet wurde. Und diesem Simon Krannig brachte der ehemalige Flensburger eines Tages das Gedicht So wurde das Lied der Martha Müller-Grählert in Zürich kom­poniert und uraufgeführt — Schondorff in Braunschweig druckte es, wie erwähnt, zum erstenmal — und an der Nordsee setzte es sich allmählich durch, natürlich mit einem geänderten Text. Ferienurlauber brachten Krannig die Nachricht, daß sein Lied an | der Nordseeküste gesungen wurde, in die Schweiz. Der alte Herr hatte in seiner Bescheidenheit niemals an einen solchen Erfolg seiner Arbeit geglaubt.

Es war aber so: An der Ostsee, für die es doch geschrieben war, setzte sich das Heimatlied der Martha Müller-Grählert zu­nächst nicht durch — es wurde mit seiner zum Walzer zersungenen Melodie ganz im Gegenteil der erste Heimatschlager der Nord­seeküste. Vor allem auf den Ostfriesischen Inseln faßte es bald Fuß — und natürlich gab es da allerlei Variationen, die auf die einzelnen Inseln zugeschnitten waren. Der Soltauer Verleger Fischer-Friesenhausen, von dem auch die verschiedensten Post­kartengedichte und Spruchweisheiten stammen, entdeckte das Lied schließlich. Auch er begeisterte sich dafür, übersetzte es J ins Hochdeutsche und gab ihm die endgültige Nordseewellen-Form. Dann ließ er die hochdeutsche, die nordsee-plattdeutsche und sogar die ostsee-plattdeutsche Version auf Postkarten drucken — und so war er der erste, der mit diesem Lied Geld verdiente, und nicht einmal wenig. Er war bislang auch der einzige, dem das Lied Gewinn brachte. Der Flensburger Glaser hatte ja nicht einmal mehr die Uraufführung erlebt. Die Dichterin hatte zwar nach langen Jahren des Prozessieren's noch die Genugtuung, daß ihr und dem Komponisten 1936 die Urheberrechte zugespro­chen wurden. Aber als das geschehen war, starb sie ebenfalls.

Fischer-Friesenhausen dagegen war im Besitz der Verlags­rechte — und er sorgte in seiner außerordentlichen betriebsamen , Art dafür, daß das Lied immer weiter unter die Leute kam. Er stellte Material für alle Arten von Chören her und auch für Solo-Gesang — und schließlich gab er außerdem Noten heraus für Akkordeon, Klavier und Orchester. Als 1933 der Hallig-Film „Heimat am Meer" anlief, wurde darin das Lied von den Nordsee­wellen gesungen — wenn die NORAG, der erste Hamburger Rund­funksender, niederdeutsche Themen behandelte, war das Rauschen der Müller-Grählertschen Meereswellen nicht fern -- und die Frisia-Reederei in Norddeich begrüßte auf ihren Inseldampfern die Gäste der Nordseewellen — mit den „Nordseewellen", die eigentlich Ostseewellen waren.

Und wenn schon die Ostfriesen sich der von so weit heran gerauschten Wellen bemächtigt hatten, so wollten die Nordfriesen natürlich nicht zurückstehen. Sie variierten sich das Lied eben­falls für ihre engere Heimat zurecht — und seine erste Zeile sah nun so aus: „Hur di Nurdseebrenning tönnert wilj üp Strön'." So wurde das Lied, das auch 1958 im „Liederbuch für Schleswig-Holstein" erschien, unversehens zum „Friesenlied". Das wieder ließ die Helgoländer nicht ruhen, und so schuf man auf der roten Insel eine speziell helgoländische Fassung — ja, man übertrug das Lied sogar in die alte helgoländische Sprache.

Es existieren also eine Unzahl von Sonderfassungen des Liedes — die übrigens beileibe nicht auf die Küste beschränkt sind! Viele Landstriche, Städte, ja Dörfer im Landesinneren haben ihre eigene Version. Wenn es geht, kommen Wellen darin vor — wenn nicht, findet sich eine andere Möglichkeit. Und gelegentlich muß das Lied auch herhalten für Scherz- und Spottlieder, ja für Parodien. Werfen wir nun aber einen Blick auf die Ausbreitung unseres Liedes an der Ostsee, seiner eigentlichen Heimat. In Pommern, Mecklenburg und Holstein hat es sich eigentlich nie recht durch­gesetzt — dafür aber um so mehr in Ostpreußen! Zunächst gab es da eine hochdeutsche Nachdichtung, die man bald das „Ost­preußenlied" nannte. Sie begann:

„Wo des Haffes Wellen ziehen an den Strand, wo der Elch und Kranich aller Welt bekannt.“..

Die ersten Töne dieses Liedes wurden vom ehemaligen Reichs­sender Königsberg eine Zeitlang als Pausenzeichen benutzt. Dann gab es jedoch Streit um die Berechtigung, und der Sender suchte sich ein neues Pausenzeichen. Man übertrug die hoch­deutsche ostpreußische Fassung dann sehr bald auch in das ostpreußische Platt — und für die Memeler wurde unser Lied so etwas wie eine Nationalhymne. So ist das Lied in den verschie­denen landsmannschaftlichen Kreisen und Chören der Ostpreu­ßen und Memeler bis auf den heutigen Tag in jener speziellen Fassung lebendig geblieben.

Auch Ostpreußen ist jedoch, wie Schleswig-Holstein, Ostfries­land und Oldenburg, Küstenland. Die musikalischen Ostsee- oder Nordseewellen, ganz wie man will, durchbrachen aber alle Dünen und Deiche und ergossen sich über die Küstengebiete hinaus bis weit ins Binnenland, wo normalerweise auch der stärkste Seewind nicht mehr hinkommt. So ließen es sich beispielsweise auch die Westfalen nicht nehmen, Melodie und Form unseres Liedes auf ihre rote Erde zuzuschreiben. Andere deutsche Land­schaften machten das nach, und es wäre gewiß eine jahrelange Arbeit, wenn jemand versuchen wollte, eine vollständige Liste all der verschiedenen Fassungen aufzustellen. Aber auch dem sehr bemühten „Wellen-Forscher" wird dabei wahrscheinlich noch die kurioseste Fassung entgehen: das Heimatlied des Fassa-Tals in den Südtiroler Dolomiten! Es steht in ladinischer Sprache, die dem rhätoromanischen Sprachkreis angehört und von rund 40000 Menschen heute noch gesprochen wird. Diese Ladiner leben in der Ostschweiz (Bündner Land etc.) — in dem österreichi­schen Vorarlberg — und eben in einigen Tälern des italienischen Südtirol. Mit diesem Lied an das Fassa-Tal sind die Ostseewellen der Martha Müller-Grählert also bis in die Alpen vorgedrungen. Aber was heißt vorgedrungen? Eigentlich sind die Wellen ja nur zurück­gekehrt an die Stätte ihrer musikalischen Geburt! Denn nicht weit von den Dolomiten entfernt liegen die Schweizer Alpen, man kann sie vom Südtiroler Karerpaß bei gutem Wetter sehen. Und am Fuße der Schweizer Alpen wiederum liegt Zürich, die Stadt, in der die heute überall so beliebte Melodie zur Welt kam. Erinnern wir uns: Simon Krannig heißt ihr künstlerischer Vater. Und dessen Sohn, Walter Krannig, lebt noch heute in der Stadt am Zürichsee — mit vielen Erinnerungen an das musikalische Gesamtwerk seines Vaters — und mit der genauen Übersicht, was alles für Gebiete unseres Erdballs sich das Lied im Laufe der Jahrhunderte erobert hat. Zunächst einmal gibt es nationale Fassungen aus nahezu allen Ländern Europas. In Schweden sind es die Ostseewellen und in Holland die Nordseewellen — Norwegen hat beides — und in England gibt es das Lied eben­falls, wie in den anderen europäischen Ländern, als Notenblätter und Schallplatten. So plätschern die eigentlich pommerschen Ostseewellen in allen europäischen Sprachen, einschließlich italienisch und spanisch. Der französische Text übrigens trägt als Titel „Les Flots du Nord". Aber die ursprünglich so kleinen Wellen liefen auch über die Weltmeere! Aus den USA liegen Abrechnun­gen vor und aus Kanada — ein Amerikaner kam extra nach Zürich geflogen, um eine Lizenz auf das Lied zu erwerben. In Australien wird das Lied gesungen — und unter anderem, vermutlich wesent­lich temperamentvollerem Titel ist es auch in Südamerika er­schienen. Und, was vielleicht am merkwürdigsten anmutet, sogar im Kongo, im Herzen des Schwarzen Erdteils, ist das Lied der Martha Müller-Grählert gesungen worden!

Rund um die ganze Welt also ist dieses Lied gegangen, und in Dutzenden von Sprachen ist es in allen Breiten des Erdballs bekannt. Wer weiß, ob es nicht auch schon die kleinen Wellen in den Teichen des indischen Tadsch Mahal gepriesen hat? Aber wie dem auch sei, wir können mit allem gebührenden Stolz darauf hinweisen, daß dieses Lied einst geschrieben wurde von einer heimwehkranken Schriftstellerin aus Pommern! Daß es trotz aller Friesen-Ungebärdigkeit, trotz roter Erde und Bergeshöhen und Dschungelnot ursprünglich weiter nichts besang als den stillen und grasbewachsenen Strand von Zingst, der völlig undramatisch unter dem hohen Seehimmel liegt — zwischen Stralsund und Darßer Ort an der schönen vorpommerschen Ostseeküste.


Auszug aus „ Pommersches Heimatbuch von 1976 - Pommersche Landsmannschaft - Kulturabteilung